Friday, 19th April 2024
19 April 2024

Pfleger Nils H.: Der schlimmste Serienmörder der Nachkriegsgeschichte?

Ein mörderischer Job: Er wollte den Helden spielen, die Routine durchbrechen. Deshalb soll ein Pfleger Patienten getötet haben. Dafür droht ihm lebenslange Haft. Heute fällt das Urteil vor dem Landgericht Oldenburg. Mit dem Urteil ist der Fall jedoch noch lange nicht abgeschlossen.

Der wegen mehrfachen Mordes an Patienten angeklagte Niels H. auf der Anklagebank im Landgericht Oldenburg (Niedersachsen).

Schwester hier, Schwester da, kaum Zeit zum Durchatmen: Krankenpflege ist oft ein mörderischer Job. Aber manchmal gibt es auch ruhigere Minuten. Pfleger Niels H. nutzte solche Momente im Klinikum Delmenhorst bei Bremen jahrelang auf ganz spezielle Weise: für einen mörderischen Nebenjob. Grundlos verpasste er Patienten auf der Intensivstation ein Mittel gegen Herzrhythmusstörungen: Gilurytmal. Dessen Wirkstoff Ajmalin kann zu lebensbedrohlichen Risiken und Nebenwirkungen führen, zu denen Niels H. keinen Arzt oder Apotheker befragen musste, denn er kannte sie, und er hoffte auf sie. H. wollte die Kranken kurz vor dem Exitus wiederbeleben und damit vor sich und den Kollegen glänzen. Aber manchmal verlor er das Spiel mit dem Tod.

Die Taten liegen schon ein Jahrzehnt zurück, doch erst jetzt erschließt sich ihr ganzes Ausmaß. Mitte 2005 war H. zufällig beim Spritzen erwischt worden. Sein Opfer konnte noch gerettet werden, und er kam das erste Mal vor Gericht. Wegen versuchten Mordes verurteilte ihn das Landgericht Oldenburg 2008 zu siebeneinhalb Jahren Haft. Seitdem sitzt er im Gefängnis.

Mehr Taten zugegeben, als angeklagt waren

Als der Fall damals durch die Medien ging, bekamen die Ermittler Hinweise von Hinterbliebenen auf weitere Fälle dieser Art. Wegen denen steht H. nun seit September 2014 erneut vor Gericht; heute soll das Urteil fallen. Etwas anderes als lebenslänglich wegen zweier versuchter und dreier vollendeter Morde ist nicht zu erwarten, denn der 38-Jährige hat inzwischen ein Geständnis abgelegt. Ja, er hat sogar wesentlich mehr Taten zugegeben, als angeklagt waren. Er scheint damit der schlimmste Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte zu sein.

Zahlreiche Kerzen werden am 01.02.2015 von Bürgern auf der Bühne des Kleinen Theaters in Delmenhorst (Niedersachsen) anlässlich…

Schon am ersten Prozesstag machte ein ehemaliger Oberarzt den Richtern klar, dass sie mit der Handvoll angeklagter Fälle nur die Spitze eines Eisbergs vor sich sähen. Der Mediziner hatte nämlich 2005 nach dem Auffliegen der Taten eine Statistik zusammengestellt. Demnach starben 2002, im Jahr vor der Einstellung des Pflegers, auf der Delmenhorster Intensivstation 98 von 1.511 Patienten, also 6,5 Prozent. Nach seinem Dienstantritt schnellte die jährliche Quote auf zehn Prozent hoch. Als er 2005 ging, halbierte sich der Prozentsatz. Eine Kurve des Grauens. Auch beim Medikamenteneinsatz: In der Ära H. steigerte sich der Gilurytmal-Verbrauch von einst 50 auf zunächst 225 und dann sogar auf 380 Ampullen im Jahr.

Hat der Angeklagte also noch mehr Menschenleben auf dem Gewissen als bisher bekannt? Sachdienliche Hinweise gab dem Gericht ein Mithäftling: H. habe ihm anvertraut, dass er nach den ersten 50 Toten mit dem Zählen aufgehört habe. Einem anderem Gefangenen soll der Pfleger gesagt haben: „Dann bin ich wohl der größte Serienmörder der Nachkriegsgeschichte.“

Wochenlang schwieg der füllige Hüne zu den Vorwürfen. Aber im Januar legte er dann doch ein Geständnis ab: In Delmenhorst habe er bis zu 90-mal heimlich zur Spritze gegriffen – und jeder dritte Wiederbelebungsversuch sei gescheitert. Wenn es aber klappte mit der Reanimation und der dafür gezollten Anerkennung, dann habe er sich „gelöst“ und „euphorisch“ gefühlt. Und dann versicherte er noch: „Es tut mir wirklich leid.“

Alle Todesfälle in seinen Schichten werden geprüft

Dass H. nur in Delmenhorst gemordet hat, glauben die Strafverfolger allerdings nicht. Sie gründeten die Sonderkommission „Kardio“ und untersuchen jetzt an allen früheren Arbeitsstätten von H. akribisch alle Todesfälle, die in seine Schichten fielen.

Allein in Delmenhorst werden derzeit 174 Krankenakten darauf überprüft, ob sich der Tod jeweils plausibel durch die Grunderkrankung der Patienten erklären lässt. Wenn nicht, wird der Leichnam exhumiert und auf Reste von nicht-verschriebenem Gilurytmal untersucht. Vor Delmenhorst war der „Todespfleger“, wie manche Medien ihn inzwischen nennen, am Klinikum Oldenburg beschäftigt. Dort hat ein Gutachter inzwischen 57 Akten analysiert. In bis zu zwölf Sterbefällen scheint es „ein Eingreifen von außen gegeben“ zu haben. Diesmal allerdings nicht mit Gilurytmal, sondern mit Kalium.

Dass sich Pflegekräfte als Todesengel aufspielen, um Leidende zu erlösen, das gab es schon anderswo. Niels H. wollte sich offenbar selber erlösen. Nur durch die Bewunderung der anderen habe er sich selbst gespürt, sagte eine Gefängnispsychologin aus. Arbeitssüchtig sei er gewesen, außerdem alkohol- und tablettenabhängig.

Ein psychiatrischer Gutachter formulierte es so: „Er wollte den Tod besiegen.“ Wenn ihm eine Wiederbelebung gelungen sei, habe das seine vielen Ängste vertrieben, Ängste, die ihn seit seiner Kindheit verfolgten.

Oft spielte er sich als Held auf

Hat denn keiner etwas bemerkt? Sowohl in Oldenburg als auch in Delmenhorst war Kollege Niels dadurch aufgefallen, dass er oft bei Wiederbelebungsmaßnahmen auftauchte und sich dort als Held aufspielte. Aber das war nur ein mulmiges Gefühl, es fehlten Beweise. Dass er tatsächlich schutzlose Patienten tötete, konnte sich keiner vorstellen. Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft Oldenburg jetzt Ermittlungen gegen acht Verantwortliche der beiden Kliniken eingeleitet, wegen des Verdachts auf „Totschlag durch Unterlassen“.

Aber auch die Arbeit der Strafverfolger ist in die Kritik geraten. Die Todes- und Medikamentenstatistik des Delmenhorster Oberarztes soll ihnen schon 2005 vorgelegen haben. Doch die damals zuständigen Staatsanwälte suchten sich nur wenige eindeutig scheinende Fälle heraus. Das sei ein jahrelanger „Ermittlungsboykott“ gewesen, beklagt die Opfer-Anwältin Gaby Lübben. Inzwischen räumt auch die Behördenleitung Versäumnisse ein und bittet die Angehörigen um Entschuldigung. Gegen zwei damals zuständige Staatsanwälte läuft jetzt sogar ein Verfahren wegen des Verdachts auf Strafvereitelung im Amt.

Die Ermittler haben also noch viel Arbeit vor sich. Niels H. dagegen wird nach seiner Haft nie wieder als Krankenpfleger arbeiten können. Seit dem ersten Urteil von 2008 gilt für ihn ein lebenslanges Berufsverbot.

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