Thursday, 28th March 2024
28 März 2024

Warum die Zahl der Morde zunimmt

Die Mordrate in den USA ist in diesem Jahr stark gewachsen. Die Ursachen sind verstärkte Gang-Rivalitäten, mehr synthetische Drogen – und der heiße Sommer.

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Exakt 535 US-Dollar sind auf dem Spendenkonto eingegangen. In zwei Monaten. Nicht viel im Vergleich zu den 25000, die Tamiko Holmes über die Crowdfunding-Plattform „GoFundMe“ sammeln möchte. „Worte können meinen Schmerz nicht beschreiben. Ich sammle für die Familie. Jeder Betrag ist willkommen“, schreibt die 38-jährige Frau auf der Website. Und daneben sieht man einen Querbalken, der den Spendenfortschritt symbolisiert. Nur ein kleiner Zipfel in der linken Ecke ist grün, der Rest grau. Wie bei einem Handy, das dringend aufgeladen werden muss.

Tamiko Holmes hat innerhalb eines halben Jahres zwei ihrer fünf Kinder verloren. Zwei Mal war es Mord. Zwei Mal in Milwaukee. Im Januar wurde ihre 20 Jahre alte Tochter Jahara während eines Raubüberfalls auf eine Geburtstagsparty erschossen. Im Juni kam ihr Sohn Rahkei ums Leben, als Unbekannte auf dessen Auto feuerten und seinen Kopf trafen. Rahkei war 19 Jahre alt. Die Täter sind noch auf freiem Fuß. „In Erinnerung an Rakhei und Jahara“ hat die Mutter den Spendenaufruf im Internet genannt.

In Milwaukee stieg die Mordrate in diesem Jahr am höchsten

In keiner anderen US-Großstadt ist die Mordrate in diesem Jahr so gestiegen wie in Milwaukee, das im Bundestaat Wisconsin liegt. 104 Menschen wurden bis Ende August getötet. Im vergangenen Jahr waren es nur 86 Fälle. Doch Milwaukee ist kein Einzelfall. Wie die „New York Times“ in dieser Woche berichtete, ist die Mordrate in über 30 Großstädten gewachsen. In St.Louis (Missouri) beispielsweise um 60 Prozent, in Baltimore (Maryland) um 56 Prozent, in Washington D.C. um 44 Prozent. Auch in New York City stieg die Zahl der Morde von 190 auf 208 (Januar bis August).

Kriminologen, Soziologen Polizeifunktionäre und Politiker suchen derzeit nach Ursachen. Bei einem Sondertreffen der Polizei im August kamen Beamte aus 70 US-Städten zusammen. Das US-Justizministerium hat für diesen Monat eine Konferenz zu diesem Thema organisiert. Bürgermeister im ganzen Land sind alarmiert und versuchen auf Pressekonferenzen, die Einwohner zu beruhigen.

Rund 300 Millionen Schusswaffen soll es in den USA geben

Wer nach Gründen fragt, hört einen fast immer: die unglaublich hohe Zahl von Schusswaffen. Rund 300 Millionen sollen in den USA im Umlauf sein. Laut einer Studie von 2014 sterben jeden Tag statistisch sieben Kinder und Jugendliche durch Schusswaffen. „Es gehört zur brutalen Realität, dass viele Menschen in ärmeren Vierteln glauben, dass es ohne Waffe unsicherer ist als mit Waffe“, sagte Milwaukees Polizeichef Edward A. Flyyn gegenüber der „New York Times“. Auch Garry McCarthy, Hauptkommissar in Chicago nennt den Überfluss an Schusswaffen als Hauptgrund. „Es hat sich gezeigt, dass die Täter in der Regel schon Vorstrafen haben. Es sind Wiederholungstäter“, sagte er.

Doch waffenvernarrt ist dieses Land nicht erst seit ein paar Monaten. Gibt es andere Erklärungen für den Anstieg? Von derzeit verschärften Gang-Rivalitäten in Städten wie Milwaukee ist die Rede, mehr synthetische Drogen sollen eine Rolle spielen, New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio nannte den heißen Sommer als einen Grund und berief sich dabei auf Studien, die eine Verbindung zwischen hohen Temperaturen und Mordraten beweisen wollen.

Am zweifelhaftesten ist ein vermeintlicher Faktor, der „Ferguson-Effekt“ genannt wird. In der Kleinstadt in Missouri war im August 2014 der 18-jährige Afroamerikaner Michael Brown von einem weißen Polizisten erschossen worden. Der Fall löste die größte Bürgerrechtsbewegung seit Martin Luther King aus: Black Lives Matter. In Folge der landesweiten Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt soll die Polizei weniger hart durchgegriffen haben. Und genau dieses Verhalten habe die Menschen zu mehr Gewaltverbrechen ermutigt, lautet eine Logik, gegen die sich viele Experten wehren. Denn einerseits stellt sich die Frage, ob die US-amerikanische Polizei wirklich deeskalierender vorgeht als noch vor einem Jahr. Und andererseits, warum diese Taktik mehr Kriminalität fördern sollte.

Den Begriff „Ferguson-Effekt“ prägte der Polizeichef von St. Louis, Sam Dotson. Zu den stärksten Unterstützern zählt die konservative Buchautorin Heather Mac Donald. Die New Yorkerin schrieb vor einigen Wochen in einem Gastbeitrag im Wall Street Journal, dass „die Sicherheit in den Städten verloren geht, sollte die Dämonisierung der Strafverfolgung nicht aufhören“. Mac Donald ist Verfechterin der „Broken-Window-Theorie“, die besagt, dass ein einziges kaputtes Fenster, das nicht repariert werde, mehr Verwahrlosung auslöst. Diese Null-Toleranz-Strategie wurde ab den 90ern zum Dogma der New Yorker Polizei – und hatte vor allem eine Folge: Polizeigewalt gegen Schwarze. Doch davon wollen Heather Mac Donald und andere „Broken-Windows“- und „Ferguson-Effekt“-Unterstützer nichts wissen.

In Milwaukee bekommt Bürgermeister Tom Barrett bei jedem Mord eine Textnachricht. In letzter Zeit waren es viele. Die Opfer sind fast immer männlich, schwarz, unter 30 Jahre alt. So wie Tamiko Holmes Sohn Rahkei. Die Mutter hat Milwaukee mittlerweile verlassen. Sie ist mit ihren drei verbliebenen Kindern nach Phoenix, Arizona gezogen. Kurz nachdem eine weitere Tochter bei einem Schusswechsel verwundet wurde. Die 17-Jährige überlebte.

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