Saturday, 20th April 2024
20 April 2024

Ich will einfach nur hier sitzen

Gehen, sitzen, stehen: Heute hat alles ein Ziel, heute ist alles auf Funktionsbereitschaft geschaltet. Doch das war mal anders. Eine kleine melancholische Kulturgeschichte der ziellosen Anwesenheit. 0

Niemand geht stundenlang und geht nirgendwohin. Immer sind wir auf dem Weg. Zur Arbeit, zum Date, zum Sport, zum Bioladen. Der eine joggt über den Asphalt, der andere steht für einen Wrap mit Zitronen-Dip an.

Urbane Realitätstüchtigkeit heißt dynamische Funktionsbereitschaft im Stadtsystem. Man kennt sein Ziel und kennt sein Zeitbudget. Man sitzt im Straßencafé und checkt die Mails. Man sitzt nicht stundenlang da und macht nichts.

Den ziellosen Geher, den nichtsnutzigen Dasitzer, man hat ihn mal Flaneur genannt. Was nicht nur eine spezifische Bewegungstechnik meinte. Mehr noch ein erkenntnistheoretisches Setting. Justierter Nachdenke-Abstand. Hier ich, dort Welt.

Account ohne Follower

Wobei schon Kant seine begründeten Zweifel hatte, ob die Anschauung unabhängig von den Gegenständen, und die Gegenstände unabhängig von der Anschauung gegeben seien.

Richtig kompliziert wäre es geworden, wenn man ihm vorausgesagt hätte, dass der Außenrand der Welt bald mit der Reichweite der Facebook-Freunde in eins fallen, und „ich“ nurmehr das erste Wort im Strom lauter Erzählsätze sein wird.

Wie will man einen Hashtag „Flanieren“ teilen? Diese Ergebenheit ins Dasitzen. Die willenlose Bereitschaft zum Aufstehen. Die seltsame Widerstandslosigkeit, die sich nicht einmischt in den Gang der Dinge. Aufbruch ohne Motiv. Teilnahme ohne Handlungsinteresse. Account ohne Follower.

Das flanierende Subjekt war mal eines, das auf der Stadtbühne vor den Kulissen des beschleunigten Lebens sein Einpersonenstück aufführte. Ein Stück, das von der Weltzugehörigkeit und der Weltfremdheit handelte und von der Unauflösbarkeit beider. Likes gab es dafür nicht.

Standbein, Spielbein

Körperbilder gab es immer. In archaischen Zeiten blieben die Beine noch geschlossen, fest verfugt zum Block, der nichts weniger als überlegenen Stand signalisiert. Dann entdeckte die griechische Klassik den Kontrapost, das hoch artifizielle Miteinander von Standbein und Spielbein, das in einem Körperzeichen Stabilität und Labilität, Spannung und Entspannung vereint.

Lange ist der Kontrapost die Regelstellung des exemplarischen Subjekts gewesen. Im eleganten Zusammenspiel von Beharrlichkeit und Möglichkeit versinnlichte sich das grandiose, naturüberlegene Ich-Bewusstsein, erhob sich zur gedanklichen Mittelpunktfigur des Weltalls.

Bis die Moderne alle Stand- und Spielbeine verrenken sollte. Nirgendwo stand ein Flaneur in der Fußgängerzone und drückte das eine Bein durch und tat auch nicht so, als würde er das andere locker hängen lassen.

Nichtstun geht gar nicht

Als es ihn noch gab, den Flaneur, machte er einen Schritt, wie Giacomettis Magerfigur „L’homme qui marche“ ihren berühmten Schritt tut, einen Schritt hinein ins lustvolle Ausgeschlossensein.

Später im Post-Flanoir. Allzeit funktionales Angeschlossensein. Man sitzt im Straßencafé und checkt die Mails. Man sitzt nicht stundenlang da und macht nichts. Man ist auch sitzend unterwegs. Man ist im Sendemodus, im Empfangsmodus. Man schlägt die Beine übereinander und setzt seinen Tweet ab.

Und während man sie noch nachbessert, die paar Tippfehler im Strom der Erzählsätze, ist der Abstand zwischen Ich und Welt auf einen Klick geschrumpft.

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