Friday, 29th March 2024
29 März 2024

Wie Trumps Berater Ärger mit seinem Rabbi bekam

Stephen Miller ist einer von Trumps Scharfmachern. Er fordert „Nulltoleranz“ gegen Flüchtlinge. Selbst stammt er aus einer jüdischen Einwandererfamilie. Sein Rabbiner hat ihm nun öffentlich die Leviten gelesen. 0

Vor nicht so langer Zeit haben wir die „zehn Tage der Ehrfurcht“ absolviert. Zunächst begingen Juden in aller Welt das Neujahrsfest Rosch ha-Schana – gleich danach stand Jom Kippur auf dem Kalender, das Versöhnungsfest: ein Tag des Fastens und Betens. In der Zeit zwischen beiden Terminen versuchen Juden, die auch nur einen Funken Religion im Leib haben, sich Rechenschaft über das vergangene Jahr zu geben und mit ihren Mitmenschen ins Reine zu kommen. Erst dann können sie nämlich darauf hoffen, dass auch Gott ihnen verzeiht.

Ein Mensch, dem in diesen Tagen ganz besonders viel Stoff zum Nachdenken gegeben wurde, ist Stephen Miller. Er gehört zu den engsten Vertrauten von Donald Trump im Weißen Haus. Und er gilt als Scharfmacher: Stephen Miller hat jene Politik der „Nulltoleranz“ mit zu verantworten, deren direkte Folge war, dass mehr als 2600 Kinder an der Grenze der Vereinigten Staaten mit Mexiko von ihren Eltern getrennt wurden. Viele von ihnen wurden hinterher in Käfige gesteckt.

Neil Comess-Daniels, der Rabbi der Synagoge Beth Shir Shalom in Santa Monica, Kalifornien, hat Miller deswegen zu Rosch ha-Schana öffentlich die Leviten gelesen. Miller besuchte diese Synagoge, als er selbst noch ein Kind war, im Alter von neun oder zehn Jahren. „Es ist klar für mich, dass du unsere jüdische Botschaft nicht verstanden hast“, donnerte Millers Kindheitsrabbiner. „Aus jüdischer Perspektive ist die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern heilig. Sie zu stören ist grausam. Mr. Miller, die Maßnahmen, die Sie mit geplant und in die Praxis umgesetzt haben, sind grausam.“

Rabbi Neil Comess-Daniels setzte in seiner Neujahrsansprache – die live auf Facebook gestreamt wurde – hinzu: „Wir Juden haben uns entschlossen, unsere Geschichte zu unserem Auftrag zu machen. Wir haben uns entschlossen, uns daran zu erinnern und zu betonen, dass die wesentliche Erfahrung des jüdischen Volkes die Sklaverei in Ägypten und der Auszug aus Ägypten sind. Wir sind alle Flüchtlinge, Mr. Miller.“

Der Rabbi sprach in diesem Zusammenhang auch vom Holocaust: Er erinnerte an Anne Frank und an die „Kindertransporte“, mit denen jüdische Kinder aus Hitlers Deutschland nach Großbritannien in Sicherheit gebracht wurden. Viele von ihnen haben ihre Eltern nie wiedergesehen. „Auch das waren ‚unbegleitete Minderjährige‘!“, rief der Rabbi aus – und verwendete den bürokratischen Fachausdruck („unaccompanied minors“), mit dem lateinamerikanische Kinder und Jugendliche bezeichnet werden, die versuchen, in die Vereinigten Staaten zu flüchten.

Der arme Stephen Miller! Beinahe kann der Mann einem leidtun. Dies war nämlich schon das zweite Mal, dass er öffentlich eins hinter die Löffel gekriegt hat. Die erste Ohrfeige verpasste ihm ein gewisser David S. Glosser – ein pensionierter jüdischer Neurologe aus New Jersey. Er schrieb für das Internetmagazin „Politico“ die Geschichte einer sogenannten Kettenmigration auf: ein Thema von brennender Wichtigkeit, weil Stephen Miller und sein Präsident geschworen haben, solche Formen der Einwanderung (bei denen ein Familienmitglied das andere nachzieht, ohne dass auf Qualifikationen geachtet würde) zu unterbinden.

Der Neurologe aus New Jersey erzählte also von Wolf-Leib Glosser, einem Juden aus einem Städtchen im heutigen Weißrussland, der vor den Pogromen des Zarenreiches nach Amerika floh. Er kam 1907 mit acht Dollar in der Tasche auf Ellis Island an. Er sprach Jiddisch, Russisch und Polnisch, aber kein Wort Englisch. Mit dem Geld, das er in einem Sweatshop verdiente, schaffte Wolf-Leib Glosser es, alle seine Kinder in die Neue Welt nachkommen zu lassen.

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Der US-Präsident hat in einem Tweet angekündigt, die Südgrenze der USA nach Mexiko zu schließen, sollte das Land den „Ansturm“ der Migranten nicht stoppen. Andernfalls werde er das Militär einschalten.

Was hat diese Geschichte mit Stephen Miller zu tun? Nun, Wolf-Leib Glosser war sein Urgroßvater. Und David S. Glosser ist sein Onkel. „Mich schüttelt es bei dem Gedanken, dass dieselben politischen Maßnahmen, die Stephen jetzt so kühl befürwortet – der Einreisestopp, die radikale Einschränkung der Flüchtlingszahlen, die Trennung der Eltern von ihren Kindern, sogar die Einschränkung von legaler Einwanderung, von der die Rede ist –, in Kraft gewesen wären, als Wolf-Leib seinen verzweifelten Ausbruchsversuch in die Freiheit unternahm“, schreibt David S. Glosser.

Heuchler im Weißen Haus

Er erinnert daran, dass knapp zwei Jahrzehnte nach der Einwanderung von Stephen Millers Urgroßvater jenes berüchtigte Quotensystem auf rassistischer Grundlage eingeführt wurde, das Juden die Flucht nach Amerika unmöglich machte. Hätte Wolf-Leib Glosser gewartet – er und seine Kinder wären dem deutschen Völkermord zum Opfer gefallen, so wie beinahe alle anderen Juden aus seinem weißrussischen Dorf.

Es ist schwer, der Schlussfolgerung von Stephen Millers Onkel zu widersprechen: Sein Neffe im Weißen Haus – ein Nachfahre von Immigranten, der heute neuen Immigranten den Zutritt verweigert – ist ein Heuchler. Wie aber sollen wir die Gardinenpredigt des kalifornischen Rabbis bewerten, und zwar zum einen in historischer und zum anderen in theologischer Hinsicht?

Rabbi Comess-Daniels sprach im Zusammenhang mit den Kindern in den amerikanischen Internierungslagern vom Holocaust. Durfte er das? Die Unterschiede liegen auf der Hand: Die Flüchtlinge aus Guatemala und Honduras laufen vor kriminellen Gangs davon, die Juden wurden Opfer eines Genozids. Die lateinamerikanischen Emigranten wollen nach Amerika hinein; die Kinder in den Kindertransporten wollten aus Deutschland hinaus.

Die Beamten des US Immigration and Customs Enforcement (ICE) sind ganz gewiss keine SS-Männer. Andererseits kann man nur Dinge miteinander vergleichen, die nicht gleich sind. Und der Satz „Immerhin seid ihr nicht in Treblinka“ ist ein eher schwacher Trost für Kinder in Käfigen, die von ihren Eltern getrennt wurden und nun für immer Waisen bleiben werden.

Appell an die Empathie

Was nun die theologische Bewertung angeht, sagte Rabbi Comess-Daniels, das jüdische Volk habe „aus seiner Geschichte seinen Auftrag“ gemacht. Hier bewegt er sich auf sicherem Terrain. Denn es gibt in der Thora zwar Gesetze, die nicht weiter begründet werden: „Du sollst nicht morden“ (2. Mose 20,13) oder „Du sollst das Zicklein nicht in der Milch der Mutter kochen“ (2. Mose 23,19). Andererseits stehen dort auch Vorschriften, zu denen ein Grund mitgeliefert wird – etwa: „Darum sollt ihr auch den Fremdling lieben, denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“ (5. Mose 10,19)

Die Genialität dieser Aufforderung besteht darin, dass hier kein abstrakter Rechtsgrundsatz gepredigt wird. Stattdessen appelliert der biblische Autor an die Empathie: Seid ihr auch schon mal in so einer Lage gewesen? Erinnert ihr euch, wie sich das anfühlt? Dann benehmt euch entsprechend. Oder wie man auf Jiddisch sagt: „Sei a mensch, hob rachmuness.“

Allerdings ist ein solcher Appell bei einem Menschen, dem nicht von selbst das Herz stehen bleibt, wenn er die Aufnahmen von Kindern hört, die schreien und schluchzen und auf Spanisch nach ihrer Mama, ihrem Papa rufen, wahrscheinlich verschwendet. Andererseits: Die „zehn Tage der Ehrfurcht“ zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur sind dafür berühmt, dass in dieser Zeit manchmal ein kleines oder auch größeres Wunder passiert.

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