Saturday, 27th April 2024
27 April 2024

Gastkommentar von Andreas Rödder zu Verdun: Die Hölle und wir

Was unsere Großväter einst in Verdun erleiden mussten – und was wir daraus für heute lernen können.

Jetzt teilen:

Am 21. Februar brach die Hölle auf Erden los. Neun Stunden lang nahmen 1220 deutsche Geschütze, Minenwerfer und Trommelfeuer die französischen Stellungen in den Wäldern vor Verdun unter Beschuss. Ein solches Inferno hatte es noch nie gegeben. Und es sollte sich 300 Tage lang fortsetzen. Am Ende stand militärisch: nichts, um den Preis von 300 000 Gefallenen und 400 000 für das Leben gezeichneten, entstellten und traumatisierten Männern auf beiden Seiten.

Am vergangenen Wochenende haben wir uns in Verdun mit der Familie eines befreundeten französischen Kollegen getroffen. Unserer beider Großväter haben dort gekämpft – keine zwei Jahre älter als unsere jüngste Tochter. Diese Geschichte ging auch einem im 21. Jahrhundert geborenen Mädchen nahe.

Auf der Höhe „Toter Mann“ fasst den Besucher noch heute die Vorstellung vom Elend der Schützengräben. Im April 1916 ging ununterbrochener Regen und Schnee nieder und weichte die Erde auf, in die sich die Männer eingegraben hatten. Bis über die Stiefel standen sie im Wasser und im Matsch, unter permanentem Beschuss, auch in der Nacht. Granaten und Giftgas, Leichen, Verwesungsgeruch und Ratten gingen über das hinaus, was Menschen ertragen können.

UNSER GASTAUTOR

Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität. Er beschäftigt sich mit der wohl schlimmsten Schlacht des Ersten Weltkriegs.

„Verdun – Les hommes de Boue“: „Männer des Schlamms“. So lautet der Titel des Films, der im Beinhaus von Douaumont gezeigt wird, wo die Knochen von 100 000 Soldaten aufbewahrt werden, die man auf den Schlachtfeldern gefunden hat. Unterlegt ist der Film mit dem Eingangschoral aus Bachs Matthäus-Passion: „Kommt, Ihr Töchter, helft mir klagen“. Der Gipfel und die Abgründe der europäischen Zivilisation in Einem – selten hat mich die Schizophrenie Europas und die Melancholie seiner Geschichte so ergriffen wie dort in Verdun.

Der schwäbische Autor Kurt Oesterle hat die bewegende Geschichte seines Großvaters und seines Vaters erzählt. Sein Großvater, ein württembergischer Landhandwerker, versuchte die traumatischen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zu verarbeiten, indem er die Erinnerung verharmloste und friedliche Geschichten, ja Märchen aus dem Krieg erzählte. Seine beiden Söhne, die sich ein Jahrzehnt nach Kriegsende mit der „nationalsozialistischen Erhebung“ radikalisierten, verachteten ihren Vater und zogen als glühende Soldaten in den Zweiten Weltkrieg. Der eine kam ums Leben, der andere seinerseits fürs Leben gezeichnet zurück und legte vor seinem eigenen Sohn, als dieser 18 wurde, seine Lebensbeichte ab.

Welche Zeichen waren vor diesem Hintergrund die stummen Gesten von François Mitterrand und Helmut Kohl, die sich 1984 vor dem Beinhaus von Douaumont an den Händen hielten, oder Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für die Gefallenen des Aufstandes im Warschauer Getto.

Erst vor dem Hintergrund dessen, was in Europa möglich war, bemisst sich der Wert dessen, was Europa seit 1945 geleistet hat. Luxemburg, Belgien, die Niederlande oder Polen sind heute nicht mehr Einmarschgebiete für die Armeen benachbarter Großmächte, sondern stellen Präsidenten europäischer Institutionen.

All das ist heute selbstverständlich geworden. Aber es ist nicht selbstverständlich, weder historisch, noch politisch. Immer größer werden die weltweiten Bedrohungen durch Nationalismen aller Art, wie sie Angela Merkel in ihrer Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz benannt hat. Europa ist mehr und mehr auf sich allein gestellt. Und daher muss es sichern und verteidigen, was es erreicht hat. Über die Einzelheiten europäischer Politik kann und muss man streiten. Um aber zu wissen, worum es geht – dazu möchte man allen Europäern empfehlen, nach Verdun zu fahren, oder wenigstens in einem Augenblick des Innehaltens nach Verdun zu schauen. Damit das Schicksal des Märchen erzählenden Großvaters von Kurt Oesterle und seinen Söhnen, das Schicksal so vieler Väter und Großväter als Mahnung lebendig bleibt.

By:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert